Habe die Ehre –
Ein Mann ein Wort

von Oliver Heisch

„Wer sich nach nichts sehnt, dem kann auch nichts gelingen.“

Ich sagte spontan Ja, als mich am 21. November 2022 die Einladung von Annette & Nicola Kluge – der Töchter von Karl-Josef und Eva Kluge – erreichte, diesen Beitrag zum 90. Geburtstag ihres Vaters zu schreiben. Karl-J. Kluge wünsche sich eine Antwort auf die Frage, was Personen, die ihn auf dem Weg und auf der Suche nach der bestförderlichen Lehrer/-innen und Schüler/-innen Beziehung begleitet haben, ebenfalls noch bewegt. Und was die Personen, die bei und mit ihm arbeiten, lernen konnten und von alledem für sich bewahrt, neu entdeckt und weiterentwickelt haben.

Lieber Karl- J. Kluge!

Erkenne dich selbst und verwirkliche dein Potential in der Familie, deinem Beruf und deinem sozialen Umfeld – Lernen heißt Veränderung.
Unter dieser Überschrift lässt sich für mich ihr Lebenswerk zusammenfassen.

Mir fallen, ohne zu zögern zuerst die Tugenden Empowerment und Umsetzungsstärke ein, wenn ich an sie denke. Menschen anzuregen an sich zu glauben, ein autonomes und selbstbestimmtes Leben zu leben ist m.E. eine Leitvision in ihrem beruflichen Wirken – ein Geschenk, das heute an ihrem 90. Geburtstag hier niederzuschreiben; sie wurden geboren, zwei Monate nach der Machtübergabe des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg an Adolf Hitler, wodurch er die Nationalsozialisten im Januar 1933 an die Macht brachte.

Gewiss übertreibe ich nicht, wenn ich schreibe, ihre fortwährende Arbeit im Feld der Humanwissenschaften ist ihr Lebenselixier. In unserer letzten persönlichen Begegnung am 13.12.2022 teilten sie mir mit, dass sie immer noch – auch an Wochenenden – mehrere Stunden am Tag, mit Freude die Abschlussarbeiten ihrer Studierenden und Doktoranden lektorieren und sich mit aktuellen Forschungsergebnissen aus den Humanwissenschaften beschäftigen.

Eva und Karl Kluge im Jahr 2021. Ich war nach Viersen gefahren um für unsere Organisation, die Bewo Plus Jugendhilfe in Köln eine großzügige Bücherspende der Familie Kluge Stiftung entgegenzunehmen.

Eva und Karl Kluge im Jahr 2021. Ich war nach Viersen gefahren um für unsere Organisation,
die Bewo Plus Jugendhilfe in Köln eine Bücherspende großzügige der Familie Kluge Stiftung entgegenzunehmen.

Sie empfahlen mir die Kulturvergleichsstudie Wertschätzung in deutschen und finnischen Schulen, von Seija Sihvo mit dem zusammen gefassten Ergebnis: Beteiligte an pädagogischen Interaktionen benötigen zuallererst Anerkennung – gleichgültig, ob es sich um Lehrende oder Lernende handelt. Sie arbeiteten an der Rezension von Björn Vedder’s Essay Väter der Zukunft und erwähnten mir gegenüber in einem Telefonat, dass sie beim Schreiben an mich denken; ihr mit mir Teilen hat mich berührt.

Vedder entwickelt in seinem Essay eine zeitgemäße Vaterrolle – […] Es wird deutlich, warum, ein Kind zu bekommen, ein Sprung in das gute Leben ist, warum Väter, die sich an Recht und Ordnung halten, Angsthasen sind, was die Künste des Vaters vermögen und wie Mutter und Vater das Kind gemeinsam fertig zur Fahrt machen. Unsere Tochter Yoko ist nun drei Jahre alt und wir haben Freude an jeder Minute mit ihr. Es gehört zu ihrem Selbstverständnis, dass sie sich regelmäßig nach unserem familiären Wohlbefinden erkundigen – sie genießen mit ihrer Frau Eva den täglichen (!) Austausch mit ihren beiden Töchtern Nicole & Annette – wie großartig.

Nur der Krieg in Europa macht ihnen zu schaffen, das Verfolgen der Berichterstattung haben sie gänzlich eingestellt. Ihnen, der sich die bedeutsamsten Sätze von Robert Baden-Powell für die Familie Kluge Stiftung zum Leitmotiv gemacht hat.

„Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt.“

– Robert Baden-Powell

Ich ziehe meinen Hut vor ihrem Lebenswerk lieber Karl – für mich steht fest. Sie haben durch ihr Wirken die Welt für viele Menschen besser gemacht – meine Welt ganz bestimmt. Und sie TUN dies auch weiterhin, durch ihr Engagement für und die Würdigung von Menschen, die sich für eine inklusive Gesellschaft engagieren.

Die Familie Kluge Stiftung verleiht den Human Award seit 2006 an Personen, die sich dafür einsetzen, das Menschenbild der Humanistischen Psychologie in Organisationen zu leben und zu prägen. Die Liste der von ihrer Familie gewürdigten Personen ist lang, dazu gehören Ursula von der Leyen, Reinhard Kahl, Ursula und Ranga Yogeshwar, Sabine Schönberger, Michael Felten u.v.m.

Seitdem ich sie kenne, ich habe sie nie entmutigt erlebt. Ich mutmaße, ihr Erfahrungswissen um die Möglichkeiten und Grenzen der Entfaltung (zwischen-) menschlicher Potentiale ermöglichte ihnen diese positive Haltung. Wir kooperieren nun schon seit 15 Jahren in unterschiedlichen Projekten miteinander- sie supervidieren nach wie vor mit großem Engagement und Leidenschaft die Fachkräfte der BeWo Plus Jugendhilfe in Köln, der Organisation, die ich im Jahr 2017 zusammen mit meiner lieben, leider bereits verstorbenen Kollegin Adelheid Schmeißer gegründet habe. Sie kennen die Geschichte.

Ihre Leidenschaft für unsere Fachkräfte und ihre Anliegen, die sie in die Supervision einbringen, zeigt sich für mich auch in einer ihrer letzten Mails
(von mir gekürzt):

Sir

In unserer jüngsten Supervision arbeitete die Gruppe hoch engagiert zum Thema: Suizidalität eines Schülers in seiner Schulbegleiter-Gruppe. Ich bot dem jungen Mann an, sein Coach zu sein… da z.Z. kein sog. Therapeut im Umfeld zu finden ist bzw. kurzfristig „bereitsteht“. Unsere Anfrage lautet: tragen Sie unsere Initiative mit und erlauben uns, dem Jungen, den Eltern und der Schule vorläufig „helfend“ zur Seite zu stehen … Und das alles in der Karnevalszeit 2023.

Wir lernten uns Ende der 2000er Jahre kennen, nach meiner ersten (Mit-) Gründung einer Kölner Jugendhilfeorganisation; damals ging die Ära ihrer Sommercamp Veranstaltungen langsam zu Ende. Das Kreative Sommercamp gründeten sie Mitte der 1980er Jahre, später auch Universitäres Sommercamp und Skylight-Campus genannt. Dieses, auf die Förderung von Begabungen, Kreativität und hoher Lernmotivation ausgerichtete, vierwöchige internationale Programm lief bis 2010 – die Ausläufer dieser Aktivitäten bekam ich gerade noch mit, als wir uns kennenlernten.

Ihre motivierenden, inklusiven Lernräume der Sommercamps starteten damit schon drei Jahre vor den organisierten Deutschen Schüler Akademien, die 1988 als Teil der Begabtenförderungsprogramme des Bundes und der Länder zur Förderung besonders begabter und motivierter Oberstufenschüler ins Leben gerufen wurden und heute u.a. von Hartmut Rosa geleitet werden.

Joachim Bröcher beschreibt sie in seinem Buch Anders Lernen, Arbeiten und Leben als Vorreiter der De-Kategorisierung, er erinnert sich.

„Seine Sommercamps setzten auf Inklusion, Partizipation, handlungsorientiertes, interkulturelles, emotional-soziales Lernen, Erlebnispädagogik und interkulturelle Begegnung. Am Kreativen Sommercamp nahmen auch taubstumme oder blinde Jugendliche aus Polen teil. Wenn Kluge von der Förderung von Begabungen sprach, meinte er das in einem sehr weiten Sinne. Obwohl er sich zunächst an der Struktur des amerikanischen HighScope-Camps orientierte, definierte er die Zielgruppe deutlich weiter. Jede Form der Kategorisierung war tabu […]

Zwar versuchten wir die Lebenskontexte der einzelnen Menschen zu verstehen und mit unseren pädagogischen Angeboten darauf Bezug zu nehmen. Aber Formen der gezielten Diagnostik oder problemzentrierten Förderung, wie es heute in der Sonder- und Inklusionspädagogik gang und gäbe ist, hatten bei diesen Sommerfreizeiten keinerlei Raum.“

Sie haben als Mentor nicht nur mein berufliches und privates Wirken positiv beeinflusst, sie geben zahlreichen Lehrer/-innen, Sonderpädagogen/-innen und Fachkräften der Kinder – und Jugendhilfe eine handlungsanleitende Perspektive. Mit ihrem Commitment geben sie den Menschen Orientierung, die sich im Berufsfeld sozial- emotionaler Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Familien zu Hause fühlen.

Wenn ich spontan in mich hineinhöre und nachdenke, welche Themen sie in unsere Beziehung einbrachten, die für mein Leben heute relevant sind, fallen mir neben ihrem jederzeit wertschätzenden, anerkennenden zwischenmenschlichem Umgang (diesen respektvollen Umgang habe ich ebenso von ihrer Frau Eva Kluge erfahren) spontan Themen wie die Prokrastination überwinden und das Ritual des Miracle Morning ein.

Prokrastination, wer kennt das Phänomen nicht – Aufgaben trotz vorhandener Gelegenheiten und Fähigkeiten entweder nicht oder erst nach langer Zeit zu erledigen. Gerne werden Alternativtätigkeiten ausgeführt, die angenehm erlebt werden oder eine unmittelbare Verstärkung ermöglichen. Die auch als Aufschieberitis oder Bummelei bezeichnete Eigenschaft aufzugeben (zumindest größtenteils), machte mein Leben produktiver.

Sie Mein Ritual, mir meinen persönlichen Miracle Morning zu gestalten hat mich im Leben produktiver gemacht, gefühlt auch glücklicher. Ich schlafe ausreichend und habe keine Mühe weit vor Sonnenaufgang aufzustehen. Nach dem Aufstehen zu lesen, zu schreiben und meinen Tag zu strukturieren ist ein großes Gut für meine täglichen Routinen; ebenso meine persönliche Fastenzeit von zwei bis vier Wochen im Jahr.

Es gab Zeiten, in diesen sind sie meiner Erinnerung nach täglich gegen 4.30 Uhr aufgestanden und haben den Tag begrüßt. Ihren letzten (mir bekannten) Miracle Morning erlebten sie mit ihrer Supervisionsgruppe der BeWo Plus Jugendhilfe – deren Teilnehmer sie so sehr schätzen!

Und jetzt, zum Ende meines Geburtstag-Beitrags zu ihren Ehren fallen mir noch die wohl bedeutsamsten Themen ein, die mich nach all den Jahren unseres Dialogs noch immer bewegen. Die Themen sind ihre enorme Qualität in der Verwendung von Sprache und ihre Hörkompetenz – DAS wesentliche Bedingungsgefüge für ein gelingendes und glückliches (Zusammen-) Leben oder (wenn Kommunikation misslingt) für unser Scheitern in der Welt. Themen, denen in Politik, Medien und allen weiteren Kommunikations- Beziehungen noch immer viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Hier bleibt wohl wahr, was ihr Glaubensbekenntnis ist.
Menschen sind in der Lage umzulernen, wenn wir im Beisein von anderen unsere Kommunikation und unser Zuhören üben, üben, üben.

Karl J. -Kluge:

Den Experten David Bohm kennen viele, die Inhalte seiner programmatischen Veröffentlichungen wenige und das Anwenden des Bohm’schen Dialogstiles gelingt in letzter Konsequenz den allerwenigsten (weil sie David Bohms Philosophie und die damit zu findende Beziehungstiefe zwar kennen, diese jedoch selten praktizieren).

D. Bohms Dialog, Philosophie und Psychologie gelingt, wenn vielschichtige Prozesse zugelassen und strukturiert werden. Wenn dieses Erfordernis gelingt, kommen Gespräch und Gedankenaustausch weit über das hinaus, was Alltag ist, nämlich das Erkunden menschlicher Erkenntnisse und Erfahrungen, das Akzeptieren tiefsitzender Wertvorstellungen, das Erfahren von Wesen und Intensität der Emotionen und das Veredeln von Denkprozessmustern. Leider hat sich an D. Bohms Erfahrung bis heute nur wenig geändert:

… das Streben der Wissenschaftler ist oft von persönlichem Ehrgeiz, starrer Verteidigung von Theorien und dem Gewicht der Tradition beeinflusst. Einstellung und Verhalten dieser Art geht auf Kosten kreativer Partizipation, welche die gemeinsamen Ziele der Wissenschaft fördern würden.“

Leider bleibt D. Bohms Erfahrung bis heute eine der unausrottbaren Tatsachen, … dass das generelle Los der Menschheit in einem vergleichbaren Netz einander widersprechende Absichten und Handlungen feststecke…“.

Seit 10 Jahren biete ich in meinen Universitätsveranstaltungen und Trainingsseminaren den Bohm’schen Dialogstil zur Verwirklichung an. Vom Anfang bis heute bot und bietet der Dialog uns stets ein Prüffeld für die Grenzen von Annahmen und Wissen und zugleich eine Neuordnung von kommunikativem Umgang und in der Beziehung zum Denkenden selbst, zu seinem Kommunikanten und zur Welt, auf der wir noch lernen müssen, zusammen zu denken, zusammen zu sprechen, uns zu ertragen und zu beachten.“

Karl J. Kluge

Ich glaube daran, der Funken leidenschaftlichen Lernens springt auf den Lernenden über, wenn er sich in der Lernsituation als Mensch anerkannt fühlt – die Veränderung hin zur gesteigerten Lernbereitschaft geschieht durch Eigeninteresse und Selbstmotivation, gepaart mit Vorbildwirkung des leidenschaftlich Lehrenden. Dies haben Sie mir jahrelang vorgelebt, mit Erfolg.

Anhand meiner eigenen Lernbiografie kann ich sagen –
Potentialentfaltung braucht vor allem Mut und Selbstinitiative.

Lieber Karl J. Kluge, ich gratuliere ihnen (auch im Namen unserer gesamten Organisation) von Herzen zu ihrem 90. Geburtstag und wünsche ihnen und ihrer Familie noch viele gemeinsame glückliche Jahre des Zusammenseins! Ich bin dankbar über jede unserer vielen Begegnungen und Gespräche und freue mich auf die noch Kommenden! Weiter geht`s.

Sie sind unserer Zeit voraus!

Herzlich,
Ihr Sir Oliver

P.S.


Unsere gesamte Organisation freut sich darüber, dass sie meiner Initiative zugestimmt haben. Wir werden ihr Lebenswerk für Kinder, Jugendliche und Familien und an persönlicher Entwicklung interessierte Menschen in die Zukunft führen. Mit diesem Projekt erhält die langjährige Kooperation – zwischen der humanwissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln und der BeWo Plus Jugendhilfe aus Köln – eine ganz besondere Würdigung.

Darauf bin ich stolz!